#016 Jim Kerr von den Simple Minds im Interview

Juni 2006: Die schottische Popband Simple Minds ist seit Ende der 1970er-Jahre aktiv und hat mit Songs wie „Belfast Child“ oder „Don’t You (Forget About Me)“ Musikgeschichte geschrieben. Dass Jim Kerr alles andere als ein simples Gemüt ist, bewies er im Simple-Minds-Interview: Im Vorfeld ihrer Show im Hamburger Stadtpark traf Ben den gut gelaunten und entspannten Frontmann zum Gespräch und erfuhr darin einiges darüber, was den Sänger und Songwriter der legendären Band antreibt. Ein Antrieb, der noch zu mindestens fünf weiteren Alben führen sollte, die die Simple Minds nach 2006 veröffentlichten.

„Du musst wahnsinnig genug sein, alles andere im Leben auf Eis zu legen.“
Jim Kerr
2006
„Du musst wahnsinnig genug sein, alles andere im Leben auf Eis zu legen.“
Jim Kerr
2006

Simple Minds: Interview mit Frontmann Jim Kerr

Hi Jim. Inwieweit ist das Wort „simple” noch eine repräsentative Beschreibung für euren Geisteszustand im Jahr 2006?
Das ist eine gute Frage, weil ich auch erst kürzlich über den Namen Simple Minds und seine Einfachheit nachgedacht habe. Es war natürlich nicht immer einfach für uns, aber in letzter Zeit ist das wieder geworden, denn wir wollen einfach nur noch eine gute Liveband sein. Die Leute sagen ‚Ihr habt „Live Aid“ und Stadions gespielt, hattet Platinum- und Nummer-Eins-Alben – was gibt es noch zu tun?’ Und wir sagen: ‚Nun, es gibt noch alles zu tun!’ Jedes Mal, wenn wir auf die Bühne gehen, müssen wir so großartig sein, wie wir können. Wir wollen weiter große Songs schreiben, und wenn man es so ausdrückt, dann ist das sehr simpel. Insofern ist diese Idee der Simplizität wieder zu uns zurückgekehrt.

Es gab aber eine Zeit, in der es für euch nicht so „simple“ war?
In so einer langen Karriere wie unserer gibt es natürlich immer Komplikationen und Dinge, die nicht wie geplant laufen. Wir wollten natürlich auch Musik machen, die etwas komplexer ist. Wir waren ehrgeizig, und manchmal waren unsere Ambitionen nicht ganz so simpel. Wenn du einen Song wie „Belfast Child“ schreibst, wäre es gefährlich, ihn zu simplifizieren, da das Thema so komplex ist.

Euer Name ist einem David-Bowie-Song entlehnt – was habt ihr mit ihm gemein?
Als Kind war er ein großer Held für mich. Das zweite Konzert, das ich je gesehen habe, war von David Bowie. Das erste war Genesis mit Peter Gabriel, und beide waren absolut elektrisierend. Musik hatte damals eine andere Währung – es gab keine Videos, es gab keine Pop-Seite in der Lokalzeitung und so etwas, es war Kult. Ein paar Freunde sagten mir ‚Du musst dir diesen Typen angucken, David Bowie heißt der!’ Als ich ihn dann zum ersten Mal im Fernsehen sah, dachte ich ‚mein Gott!’ und plötzlich hatte ich etwas, das mir gehörte und nicht meinen Eltern oder den älteren Brüdern meiner Freunde. Die sagten alle nur ‚Was ist das für ein Freak?!‘ Das hatte einen elektrisierenden Effekt. Bowie ist ein Held für mich, den ich während seiner guten und seiner schlechten Zeit unterstütze, egal ob er gerade in oder out ist. Er ist eine sehr wichtige Figur in meinem Leben.

Habt ihr vielleicht auch gemeinsam, dass ihr euch beide immer wieder selbst neu erfunden habt? Dass ihr niemals stehengeblieben seid?
Ja, vielleicht. Wir haben uns immer ausprobiert, einige Dinge haben nicht immer funktioniert. Aber wir haben es weiter versucht, waren rastlos und immer neugierig, immer schnell gelangweilt. Und das bringt einen dazu sich weiterzugehen.

Die Anfänge der Simple Minds als „lächerliche“ Punkband

Hättest du je gedacht, dass es Simple Minds so lange geben würde?
Nein, absolut nicht. Wir hatten kein Konzept für 30 Jahre, wir hatten überhaupt kein Konzept in Bezug auf Zeit. Wenn du 18 oder 19 bist, ist dein einziges Konzept nächste Woche. Können wir einen Gig klarmachen? Vielleicht können wir in zwei Wochen irgendwo spielen oder irgendwer in Deutschland kann irgendwas finden… es war ein Leben im Moment. Auf der anderen Seite waren wir aber auch davon überzeugt, dass alles möglich ist. Wir hatten nur keine Ahnung, was genau das heißt.

Ihr habt als Punkrock-Band Johnny and the Self-Abusers angefangen – habt ihr euch einige der alten Punk-Ideale bis jetzt bewahrt?
Auf eine seltsame Weise ja. Johnny and the Self-Abusers war eine ziemlich lächerliche Band, eine Witzband, man kann aber auch nicht von der Hand weisen, dass sie sehr wichtig für uns war, da wir damit den ersten Schritt gemacht haben. Und wenn du den ersten Schritt nicht machst, kannst du jahrelang über etwas nachdenken, ohne dass was passiert. Ich kenne viele Leute, die schon immer ein Filmskript oder ein Buch schreiben wollten. Und vielleicht hätten sie auch ein großartiges Buch in sich gehabt, aber sie haben nie den ersten Schritt dafür getan. Wahnsinnig genug zu sein, alles andere im Leben auf Eis zu legen und es durchzuziehen, das ist wichtig. Charlie Burchill und mir hätte das auch passieren können, wenn es Johnny and the Self-Abusers nicht gegeben hätte. Wir waren von einer Art Wildheit besessen und konnten keine einzige Note spielen. Aber in dieser Witzband gab es einen Moment der Realität: Unser erster Gig auf der Bühne. Wir haben uns angesehen und dachten ‚das ist unglaublich – das ist es, was wir mit unserem Leben machen wollen. Also sollten wir besser ernst machen.’.

Ihr seid durch viele künstlerische Perioden in eurer Karriere gegangen und habt unterschiedliche Botschaften an eure Fans weitergegeben – was vertreten die Simple Minds heute?
Es gibt keine zentrale Botschaft. Die kontinuierliche Philosophie ist, dass es eine positive Musik ist. Es hört sich vielleicht schmalzig an, aber die Simple Minds machen immer noch Musik für Träumer und Romantiker, haben aber auch eine Art Kante. Für mich mag die Welt vielleicht ein schöner Ort sein, aber sicher nicht für jeden da draußen. Es gibt also keine wirkliche Message, sondern eher eine Art Bild, das diese Dinge umspannt.

Jimm Kerr über die lange Reise der Simple Minds

Hat sich deine Lebenseinstellung in den 30 Jahren verändert? Was hast du durch die Musik für dein Leben gelernt?
Mein Leben wurde durch die Musik geformt. Der finanzielle Lohn gibt dir ein wenig Kontrolle über dein Leben. Für mich war aber der größte Lohn die ganze große Reise, die Erlebnisse, die Freundschaften, das Erwachsenwerden – das hört sich schon wieder schmalzig an, aber für mich ist es diese Idee von einer Reise, die mich bis hierher gebracht und geformt hat. Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ich mal in Italien wohnen und Italienisch sprechen, meine Freundin Japanerin und die Bücher, die ich lese, russische sein würden. Ich wäre vermutlich auch als Techniker in Glasgow glücklich geworden, aber all das hat mich geformt, obwohl ich im Wesentlichen noch so wie damals bin. Nur anders ausgeformt.

Und diese Reise geht immer noch weiter?
Ja, das ist es, die Welt ist immer noch ein faszinierender Ort. Vielleicht nicht immer ein schöner Ort, aber faszinierend. Menschen sind faszinierend, Geschichten sind faszinierend. Du hast die einfachen Dinge erwähnt – es ist schön heute hier zu sein, ich bin aufgeregt heute Abend zu spielen. Andererseits freue ich mich aber auch über ganz einfache Dinge: Die Sonne scheint, ich schaue in die Sonne und auf Blumen, es wird bald Sommer sein – das ist angenehm, großartig! Wenn ich so denke, dann sagt mir das, dass meine Sinne noch wach sind. Das mag vielleicht banal klingen, aber für mich ist es etwas Besonderes, weil es mir sagt, dass ich immer noch neugierig bin und meine Sinne geschärft sind.

Du sprichst von der Sonne – was fasziniert dich so an Sizilien?
Ich liebe vor allem die Landschaft. Zum ersten Mal bin ich vor 20 Jahren auf dieser alten, vulkanischen Insel gewesen. Römer, Griechen und viele andere Zivilisationen waren schon dort. Ich liebe aber auch den italienischen Lebensstil – das Essen, die Frauen, la dolce vita. Die Farben, die Natur, die Kombination von allem.

Magst du Sizilien auch so, weil es sich so von Schottland unterscheidet?
Glasgow ist eine Rock’n’Roll-Stadt und ich wollte auch nie von dort weg, es gibt aber ohne Zweifel Orte auf der Welt, an denen du dich lebendiger und pulsierender fühlst, Orte, die eine besondere Kraft haben. Ich mag an Sizilien, dass sich dort Europa und Afrika, Europa und der Orient treffen. Ich liebe diese Randzonen, man kann das in der Luft spüren.

Simple-Minds-Interview: Jim Kerr über die Zukunft

Würdest du zustimmen, dass Simple Minds nach „Sparkle in the Rain“ mehr und mehr zu einer poppigeren Mainstream-Band geworden sind? Kam das automatisch oder war das ein bewusster Schritt, um eine größere Hörerschaft zu erreichen?
Wenn du das sagt, klingt das so einfach. Ich denke, wir wollten uns einfach ein bisschen mehr aufs Songwriting und die Arrangements fokussieren. Bis dahin war es so, dass wir live manchmal Songs gespielt hatten, die zwölf Minuten lang gewesen waren. David Bowie hatte ein tolles Pop-Album namens „Let’s Dance“ gemacht. Roxy Music, die auch ein großer Einfluss für uns waren, hatten ein tolles Pop-Album namens „Avalon“ gemacht. Beide waren natürlich immer noch David Bowie beziehungsweise Roxy Music, aber sie hatten Pop-Arrangements. Rückblickend war das aus meiner Sicht ein großer Einfluss für uns. Wir hatten dann mit „Don’t You Forget About Me“ einen unglaublichen Erfolg – aber das kam unerwartet, ein Zufall, wir hatten es nicht darauf angelegt. Also ja, ich denke, wir wollten ein Pop-Album machen.

Stichwort „Don’t You Forget About Me“: Hast du Angst, dass die Simple Minds irgendwann einmal in Vergessenheit geraten werden?
Nein. Dinge geschehen, wir haben kein Recht, irgendetwas zu erwarten. Immer wenn die Leute die Simple Minds vergessen haben, lag es daran, dass wir eine Pause gemacht oder keinen guten Job gemacht haben. Zu einem gewissen Grad haben wir also Kontrolle darüber, aber… nun, ich würde nicht sagen, dass es uns egal ist, aber… es ist einfach nicht unser Fokus. Der Fokus ist, großartige Arbeit abzuliefern. Und wenn du das tust, dann wird sich der Rest schon fügen.

Was sind eure Pläne für die Zukunft?
Es wird ein neues Album geben, wir arbeiten gerade an neuen Songs. Das sagt mir, dass das Momentum zumindest in der unmittelbaren Zukunft bestehen bleibt. Ironischerweise haben wir in unserer 30-jährigen Karriere nie länger als ein, zwei Jahre für die Zukunft geplant. Wir genießen die Energie, die wir gerade haben, wir genießen das Momentum, das Leben fühlt sich gut an. Doch diese Dinge sind immer zyklisch: Wer weiß, vielleicht sind wir in zwei Jahren wieder komplett ohne Energie?

Schön, dass es nicht so kam. Danke für das Simple-Minds-Interview, Jim Kerr!

Simple Minds Interview:
Ben Foitzik
Datum:
2. Juni 2006
Ort:
Stadtpark Hamburg
Copyright Bild:
Ben Foitzik 2006

Weitere spannende Interviews auf hesher.de